Landesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Rheinland-Pfalz e.V.

Dr. Manfred Ziepert

Beim Thema denke ich sofort an dramatische Situationen: Ein akut psychisch Erkrankter wird mit Blaulicht und Polizeieskorte in die Klinik gebracht – und die Angehörigen haben das in die Wege geleitet! Der Kranke meint: Ihr habt mich verraten. Ich werde abgeschoben, damit ich hier kaputtgehe. Und die Angehörigen, die tage- oder gar wochenlang Aggressionen aushalten mussten, Angst um das Leben des Kranken ausstanden oder mit ansehen mussten, wie der Kranke viel Geld ausgab – für sie wird das Geschehen noch schlimmer, wenn sie schließlich in ihrer Ratlosigkeit den Notarzt oder die Polizei alarmieren. Ihre Schuldgefühle sind dann so schlimm wie alles andere vorher.

Ich denke beim Thema an depressiv Kranke. Dort geht es leiser zu; das ist aber für die Angehörigen nicht weniger schlimm. Angehörige, die mit ansehen müssen, wie der Drang zur Selbsttötung immer unwiderstehlicher wird, überreden den Kranken schließlich doch, in die Psychiatrie zu gehen. Bloß nicht in die Geschlossene, sagt der Kranke – und kommt dann doch genau da hin.

Und wenn sich die Angehörigen losreißen und der Kranke blickt sie noch einmal an, voller Angst, voller Verzweiflung – solch einen Blick vergisst man nicht. Ich stand oft daneben in solchen Momenten. Die Angehörigen gehen dann fort und denken: »Hätten wir es nicht doch aushalten müssen? Wie wird es ihm dort ergehen?« Dann besuchen sie den Kranken einige Tage später und erleben wieder die stumme Verzweiflung im Blick. Manchmal bedrängen die Angehörigen dann den Arzt, einer Entlassung zuzustimmen, obwohl sie erlebt haben, dass zuhause absolut nichts mehr ging.

Wenn Angehörige in dieser oder ähnlicher Weise gezwungen sind, eine Einweisung zu veranlassen, »die Notbremse zu ziehen«, also Dinge zu tun, die sie sich niemals hätten träumen lassen, dann ist das für sie und den Kranken eine schlimme seelische Verletzung. Die Angehörigen sitzen einfach rettungslos zwischen den Stühlen. Wenn sie nichts unternehmen, wird es für sie letztlich unerträglich. Veranlassen sie eine Einweisung, werden sie in den Augen des Kranken und vielleicht auch anderer Menschen zu Verrätern.

Liebe und Abgrenzung – ein Widerspruch? Nein, im Gegenteil. Ein Beispiel für viele: Eine Mutter war nach Jahren des Erduldens völlig ausgebrannt. Am Ende war die Beziehung zerstört und der Kranke, der sich verstoßen und entwurzelt fühlte, nahm sich das Leben.

Der sicherste Weg, die Liebe, die Beziehung dauerhaft und endgültig zu zerstören ist der, wenn Sie sich als Angehörige nicht abgrenzen. Die meisten zerstörten Ehen und Familien mit einem psychisch kranken Familienmitglied, die ich kenne, sind dadurch zerbrochen, dass die Angehörigen das Elend zu lange aushalten mussten – oder glaubten, es aushalten zu müssen.

Angehörige hingegen, die es schafften, rechtzeitig die »Notbremse« zu ziehen, konnten in der Regel die tröstliche Erfahrung machen: So schlimm die ersten Tage oder Wochen waren, nach erfolgreicher Behandlung fand die Familie wieder zusammen.

Zwei Regeln:

Der chronisch Leidende

Wie ist es nun mit chronisch psychisch Kranken, die depressiv bleiben, die apathisch und antriebsschwach sind, die sich oft unberechenbar verhalten?

Hier entstehen für den Angehörigen im Wesentlichen zwei Probleme:

Nicht selten erlebe ich, dass Angehörige nicht mehr richtig froh sein können, weil ihnen das Leiden des Kranken ständig vor Augen steht oder sie sich isolieren. Aber wird es davon wirklich besser? Der Kranke merkt, dass er Ihnen eine Last ist, dass Sie seinetwegen unglücklich sind. Und darunter leidet er auch wieder.

Eine wirkliche Stütze sind Sie nur dann, wenn Sie dafür sorgen, dass es Ihnen hinreichend gut geht. Das ist sicher leichter gesagt als getan. Es bedarf möglicherweise einer längeren Zeit der Trauerarbeit, um sich damit abfinden zu können, dass der Kranke sich verändert hat.

Der mich ausnutzende Kranke

Auch dies kann erhebliche Probleme bereiten: Der Kranke lässt sich weitgehend bedienen. Er tut nur, was ihm Spaß macht. Wenn Sie etwas verlangen oder ihn zur Rede stellen, macht er deutlich, dass er ja schließlich krank ist. Vom Gefühl her ärgert man sich, der Verstand sagt:
»Er kann ja nichts dafür.«

Hier ist wohl der Ausdruck »Waffen des Wahnsinns« angebracht. Kranke erleiden nicht nur ihre Erkrankung, sie nutzen sie auch und setzen sie ein zu ihrem Vorteil. Sie erkennen sehr schnell ihre Macht, wenn die Krankheit stets und ständig als Entschuldigung akzeptiert wird. Kranke sind nicht von Natur aus nur unschuldig oder edel.

Nun ist es im Einzelfall sicher schwer zu unterscheiden, was ein Kranker gerade kann bzw. nicht kann. Es ist auch richtig, dass Kranke es oft schwerer haben, sich zu steuern oder sich zu etwas aufzuraffen. Das kann jedoch nicht heißen, dass sie dazu außerstande sind. Es gibt nicht wenige chronisch Kranke, die zwar vieles noch können, die ihr Kranksein aber weidlich ausnutzen und ihre Angehörigen regelrecht »verschlingen«.

Kann man in einem solchen Fall immer nur mitleidig sagen: »Ja, ich weiß, du kannst nichts dafür.«“ Oder muss man nicht auch zweifelnd nachfragen: »Was machst du eigentlich mit mir?«

Es gibt da eine hübsche Fabel vom Hasen und vom Wolf. Der Hase hoppelt durch den Wald und trifft den Wolf, der in Not geraten ist – sein Schwanz ist unter einem Baumstamm eingeklemmt. Der Wolf fleht: »Lieber Hase, rette mich, ich will dich reich belohnen.« Der Hase, dieser Dummkopf, tut es und hebelt den Baumstamm hoch. Der Wolf springt hervor und ruft: »Zur Belohnung fresse ich dich. In meinem Inneren bist du für immer gut geborgen.« Der Hase fleht um sein Leben und macht geltend, dass dies so nicht ausgemacht gewesen sei. Sie werden natürlich nicht einig und während sie streiten, kommt der Bär vorbei. Er bietet sich als Schiedsrichter an und lässt sich berichten. Dann meint er: »Moment, um den Fall richtig zu verstehen, müssen wir das Ganze rekonstruieren.« Gesagt, getan. – der Schwanz des Wolfes kommt wieder unter den Baumstamm. Kaum liegt er, meint der Bär zum Hasen: »Nun mach aber, dass du fortkommst; und tu so etwas nicht noch einmal.«

Mitleid und Misstrauen wollen abgewogen sein. Es muss Klarheit im täglichen Zusammensein angestrebt werden, inwiefern Hilfe notwendig ist oder ob Sie sich verweigern, sich schützen, klare Forderungen stellen müssen. Angehörige, die sich nur ausgenützt fühlen, sind irgendwann
ausgebrannt und können den Kranken nicht mehr lieben.

Suizidversuch bzw. Suizid

Das ist sicher eine der schrecklichsten und schmerzlichsten Erfahrungen, die uns passieren kann. Da ist Entsetzen, Verzweiflung, Schmerz. Da ist auch Schuldgefühl: Habe ich zu wenig getan? Hätte ich doch eine Klinikeinweisung veranlassen sollen? Ist es in der Klinik passiert – hätte ich ihn nicht doch zu Hause behalten sollen. Die Gedanken gehen im Kreise, sie quälen.

Es kommen aber auch Fragen auf an den, der sich das Leben nahm. Wie konntest du dich so davonstehlen? Uns so im Stich lassen? Man traut sich kaum, so etwas zu denken, aber es drängt sich auf. Ist auch dann Abgrenzung nötig? Ich glaube, ja.

Abgrenzung heißt hier einmal:

Durch Suizid wird kein Mensch automatisch zum Heiligen. Ich darf fragen, ob er nicht doch hätte einen anderen Weg gehen können. Wenn man sich nicht bewußt macht, dass man auch Bitterkeit fühlt und vorwurfsvoll denkt, kann man sich innerlich nicht mit ihm aussöhnen. Abgrenzung heißt hier auch: Selbst wenn ich mitschuldig bin, selbst wenn ich es möglicherweise hätte verhindern können – das alles weiß ich erst hinterher. Trotz allen Bemühens sind Fehler mitunter nicht vermeidbar. Sie gehören zu unserem Schicksal. Das Leben eines anderen Menschen habe ich nie völlig »im Griff«. Dass wir Fehler begehen, einander weh tun, auch aneinander schuldig werden, gehört zum Leben dazu. Entscheidend ist: Du wolltest es nicht, du konntest es nicht verhindern.

Versöhne dich mit dem, der sich das Leben nahm. Versöhne dich mit dir selbst. Dann kannst du den Anderen trotz allem in liebender Erinnerung behalten und – nach der Zeit des Schmerzes und der Trauer – auch wieder Freude am Leben finden.

Gefühle, die Abgrenzung ermöglichen und behindern

Ohnmacht und Hilflosigkeit

Es gibt wohl kaum Angehörige, die diese Gefühle nicht kennen; Empfindungen, die wir am schlechtesten ertragen können. Diese Gefühle zuzulassen, hilft uns jedoch, den Moment zu erkennen, wann wir kapitulieren müssen, wann wir das Schicksal des Kranken aus der Hand geben sollten. Wer Ohnmacht nicht fühlen kann, kann den Kampf nicht aufgeben. Die Vermeidung dieses Gefühls ist wie eine Klammer, die uns an das vernichtende Schicksal des Kranken kettet.

Schuldgefühl

Schuldgefühle ketten uns immer fest an den Kranken. Natürlich sind Schuldgefühle – als Ausdruck unseres Gewissens – eine wichtige Triebkraft für ein solidarisches Zusammenleben.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, wie sie entstehen können:

Jemand hat irgendwann etwas getan (vielleicht heimlich), was sein Gewissen belastet. Dies bedrückt und ängstigt ihn insgeheim weiter. Kommt nun die Krankheit zum Ausbruch bei einem Angehörigen, ist plötzlich der Gedanke da: »Bestimmt ist das die Strafe.«

Die Krankheit kommt in einer Beziehungskrise zum Ausbruch. Fast zwangsläufig kommt der Gedanke: »Ich habe sie/ihn in die Krankheit hineingetrieben. Ich bin schuld.

Schuldgefühle wecken immer das Bedürfnis nach Wiedergutmachung. Wenn dann der Kranke trotz aller Anstrengungen nicht wieder richtig gesund wird, kommen auch sie nicht zur Ruhe. Schuldgefühle bedürfen der Aussöhnung, der Vergebung – wenn es sich um echte Schuld handelt. Sind sie jedoch unbegründet, bedürfen sie des Freispruchs. Bei der Erzeugung falscher Schuldgefühle haben ja so manche meiner Kollegen mitgemischt. Glücklicherweise haben sich mehr und mehr Psychiater bereit gefunden, die Angehörigen nicht als Sündenböcke oder Störenfriede, sondern als unverzichtbare Partner in der Therapie zu akzeptieren.

Trauer

Trauer gehört immer zum Schicksal der Angehörigen. Sie kommt nach verletzenden, katastrophalenEreignissen, aber auch, wenn chronisch Kranke sich verändern, nicht wieder die »Alten« werden.

Wenn wir lange und intensiv genug getrauert haben, können wir allmählich den Verlust akzeptieren. Daran führt kein Weg vorbei. Wir können uns vom Verlorengegangenen nicht lösen, wenn wir Trauer nicht zulassen. Vermeidung von Trauer ist eine Klammer, die uns an die schönen Zeiten der Vergangenheit kettet. Angehörige, die nicht trauern können, führen oft einen immer aussichtsloseren Kampf um Dinge, die nicht erreichbar sind. Sie entwickeln eine zunehmende Vorwurfshaltung gegen sich, gegen die Helfer, gegen den Kranken.

Manchmal sind Kampf, Vorwurf, Bedrängung erst einmal ein notwendiger Schutz, ein Aufbäumen gegen ein Schicksal, das nicht zu ertragen ist. Manchmal muss man sich durch Kampf auch die letzte Gewissheit verschaffen, dass man wirklich alles versucht hat. Manchmal haben Angehörige, die auch dann noch keine Ruhe gaben, wenn die Ärzte schon aufgegeben hatten, sogar Recht behalten.

Irgendwann aber will die Trauer zu ihrem Recht kommen – und man braucht dann oft einfühlsame Helfer. Trauer kann sehr lange anhalten. Und die, die zunächst viel Verständnis hatten, wenden sich irgendwann ab. Aus Scham kann langdauernde Trauer oft nicht mehr geäußert werden und wird erneut verdrängt. Erlebte Trauer löst ganz allmählich die Klammer zur Vergangenheit, damit wir das Heute besser angehen können.

Zorn

Auch der Zorn gehört zum Schicksal der Angehörigen.

Während uns vermiedene Trauer an die Vergangenheit kettet, ist vermiedener Zorn die Klammer, die uns festkettet am Heute, nämlich am überfordernden und verletzenden Verhalten des Kranken. Zorn ist ein wichtiges Signal. Er regt sich, wenn meine Grenzen deutlich verletzt wurden.

Wenn ich nun meine, Zorn sei immer etwas Schlechtes, bekomme ich Schuldgefühle. Prompt regt sich mein Wiedergutmachungsbedürfnis, worauf mich der Kranke noch mehr ausnutzt…

Zorn mahnt zur Abgrenzung: Es muss Klarheit geschaffen werden, wie ich mich behandeln oder nicht behandeln lassen will, welche Forderungen ich stelle, wie ich mich schütze. Dann kann auch Liebe wieder wachsen.

Zorn und Liebe sind kein Gegensatz, im Gegenteil: Zorn will Liebe eigentlich schützen – wenn er nicht zu lange übergangen wird. Erst jahrelang aufgestauter Zorn zerstört die Liebe irgendwann.

Zorn muss auch mal herausgeschrien werden. Das ist nicht schlimm – wie ein reinigendes Gewitter. Es ist nur wichtig, sich später auch noch einmal in Ruhe gegenseitig zuzuhören.

Vielleicht denken jetzt einige: Das kann doch nicht sein – laut EE (Expressed Emotions) machen doch negative Gefühle krank! Denen antworte ich: Keine Angst vor EE! Die Gefahr des EE-Konzeptes ist, dass die »richtigen« Gefühle am Reißbrett entworfen und programmiert werden sollen. Nur geht das leider nicht. Inzwischen sieht das die EE-Forschung selbst nicht mehr so simpel.

Liebe und Abgrenzung sind nur scheinbar ein Gegensatz. Sie gehören zusammen – nicht nur in der Beziehung zu psychisch Kranken, aber hier ganz besonders. Liebe und Abgrenzung sind wie die zwei Seiten einer Medaille, wie der Wechsel zwischen Tag und Nacht.

Vortrag auf der Jahrestagung des Landesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker Rheinland-Pfalz im November 1999